Dr. Buschmann schrieb für den „Spiegel“ den folgenden Gastbeitrag
Der Zusammenhalt der
deutschen Gesellschaft ist angesichts der Corona-Krise beeindruckend.
Doch niemand sollte sich täuschen: Lange werden sich das die Leute nicht
mehr gefallen lassen. Zugespitzt formuliert: Bald könnte Revolution in
der Luft liegen, wenn das so weiter geht. Stellt die deutsche
Mittelschicht irgendwann fest, dass ihr Betrieb pleite, ihr Arbeitsplatz
verloren oder ihr Aktiensparplan wertlos ist, dann wird sie sich
radikalisieren.
Das ist keine Panikmache,
sondern eine Lehre aus der Geschichte. Schon der französische Historiker
Alexis de Tocqueville lehrte, dass die Bürger eines Staates in Phasen
langen Wohlstands immer empfindlicher gegenüber Zumutungen werden, die
sie als ungerecht empfinden. Daraus folgt: Revolutionen finden nicht
dann statt, wenn es den Menschen am schlechtesten geht. Sie neigen dazu,
wenn auf eine lange Periode großen Wohlstands ein plötzlicher Einbruch
stattfindet.
Der deutsche Soziologe
Theodor Geiger erkannte in der politischen Radikalisierung im
Deutschland der 1930er-Jahre eine Reaktion der Mittelschicht auf ihren
gesellschaftlichen Absturz in der Weltwirtschaftskrise. Der
US-Politologe Samuel Huntington war der Ansicht, dass die
Mittelschichten zur Radikalisierung tendieren, wenn sie die Sorge
umtreibt, im Vergleich zu anderen Gruppen ihren gesellschaftlichen
Status zu verlieren. Und der US-Politologe Francis Fukuyama erinnerte
jüngst daran, dass der gesellschaftliche Abstieg von Mittelschichten ein
Treiber aggressiver Polarisierung sei.
Die Beschlüsse des
Deutschen Bundestages vom 25. März 2020 haben den Zweck, den Bürgern und
Betrieben ein wenig Zeit zu verschaffen, um auf den externen Schock der
Corona-Krise reagieren zu können. Aber das bisschen Zeit, dass der
Staat der Gesellschaft und der Wirtschaft trotz gewaltiger Summen, die
mobilisiert worden sind, erkaufen kann, läuft bald ab. Bis dahin müssen
medizinische Szenarien und politische Abwägungen her. Sie müssen die
Frage beantworten, ab wann es verantwortbar ist und ab wann es sogar
geboten ist, die jetzige Ausnahmesituation der sozialen Distanzierung
zurückzufahren und schließlich zu beenden.
Für diese Abwägungen wird
entscheidend sein, ob bereits zugelassene und ausreichend skalierbar
produzierbare Medikamente den Krankheitsverlauf einer Covid-19-Infektion
mildern, unterbrechen, der Notwendigkeit einer intensivmedizinischen
Betreuung vorbeugen und die Sterblichkeitsrate signifikant senken
können. Solche Medikamente könnten dann schnell und breitflächig zum
Einsatz kommen. Die gesundheitliche Gefahrenlage könnte sich dadurch
erheblich entspannen. Sämtliche klinische Studien, die diesem Zweck
dienen, müssen finanziell und administrativ volle Unterstützung
erhalten.
Für diese Abwägungen wird
entscheidend sein, ob schnellere und zuverlässige Verfahren für
Massentests verfügbar werden. Denn dann wäre es möglich, Menschen, die
den Virus verbreiten, schneller zu identifizieren und zu isolieren. Dann
wäre es auch denkbar, „sichere Häfen“ zu schaffen, in denen sich
Menschen aufhalten und dort frei interagieren können, die negativ
getestet sind und sich weiterhin engmaschig Tests unterziehen. In diese
Abwägung muss der verlässliche Wissensstand zu Hochrisikogruppen
einfließen. Wenn sie gezielt so geschützt werden könnten, dass
Gesundheitsgefahren für die restliche Bevölkerung auf das Niveau einer
schweren Grippewelle sinken würden, wie es der Virologe Alexander Kekulé
jüngst formulierte, dann wäre eine Aufhebung des allgemeinen Lock Downs
nicht nur verantwortbar möglich, sondern grundrechtlich sogar geboten.
Und in diese Abwägung muss auch eine mögliche Radikalisierung der
Mittelschicht mit einfließen.
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